Thesen zur Entwicklung der Bondmärkte  
(Original-Langfristprognose vom 1/2001)

Stolz bewertete Aktien - Sorglosigkeit ggü. Risiken?

Aufgrund der ausserordentlich guten Performance standen in vielen Hauptmärkten in den 90er-Jahren Aktienanlagen im Rampenlicht. Obligationen führten eher ein Schattendasein, obschon auch ihre Performance aussergewöhnlich hoch war. Auf den Aktienboom und die vermehrte Wahrnehmung von Aktien hatte die veränderte Angebotsstruktur einen immensen Einfluss. Viele Finanzinstitute haben ihre Reseach-Abteilungen in den vergangenen Jahr deutlich ausgebaut. Die neuen Ressourcen wurden grösstenteils dem Aktienresearch zugewiesen. Zudem wurden enorme Marketing-Anstrengungen unternommen, um die Investoren mit ihren Engagements in die Aktienmärkte zu lenken. Neue Fernsehstationen und Zeitschriften wurden aus dem Boden gestampft und wollen "heisse" Tipps in jede Wohnstube bringen. Die Börse wiederum präsentiert stolz Statistiken, die einen zunehmenden Anteil von Aktienbesitzer belegen.

Wahrscheinlich keiner früheren Generation dürfte mehr weissgemacht worden sein, dass sich mit Aktien langfristig eine bessere Performance als mit Obligationen erzielen liesse. Die Aktienhausse in vielen Ländern hat die Investoren in dieser Meinung bestätigt. Selbstverständlich ist der Boom an den Börsen gerade auch auf das fast unerschütterliche Vertrauen und auf den reichen Geldsegen der in die Aktienmärkte floss, zurückzuführen. Auf das historisch betrachtet bedeutend höhere Risiko von Aktien im Vergleich zu Obligationen wird oft ungenügend hingewiesen. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Aktienquote in den privaten Portfolios in den vergangenen Jahren stetig zugenommen und die Pensionskassen in einigen Ländern neue Richtlinien beschlossen haben, um mehr in Aktien investieren zu können. Trotz dem sehr aktienfreundlichen Umfeld ging den Aktienmärkten Ende 2000 die Luft etwas raus. Plötzlich rücken auch in der "neuen Welt" Bewertungsfragen und Sorgen um die Kreditwürdigkeit einzelner Gesellschaften in den Mittelpunkt. Solche Bonitätsfragen müssen auch von den Obligationären ernst genommen werden.

Anforderungen an die Anleihenemittenten nehmen zu

Der Reiz von schnellen Aktiengewinnen ist aber trotzdem immer noch gross. Gleichzeitig versuchen immer mehr Unternehmen mittels Fremdkapitalaufnahme, Aktienrückkaufsprogrammen und Optionsplänen und anderen Massnahmen, die Attraktivität ihrer Aktien zu erhöhen (verstärkte Shareholder Value Fokussierung;
Foto "Shareholder Value and the Roaring 1990s"). Solche Massnahmen können die Aussichten von Firmen langfristig negativ beeinträchtigen. Eine Verschlechterung der Kreditqualität schwächt nicht zuletzt die Position der Obligationäre als Gläubiger. Solche Entwicklungen werden dazu führen, dass sich die Nachfrage nach Anleihen gewisser Schuldner verhaltener entwickeln wird als bis anhin. Wie schnell dieser Prozess ablaufen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie stark der Ausbau von neuen Creditresearch-Abteilungen forciert wird. Ihnen kommt als Beschleuniger in Sachen Markteffizienz eine wesentliche Rolle zu.

Aufgrund der Rahmenbedingungen werden sich Kapitalmarktschuldner, die ihre Finanzierungsbedürfnisse möglichst auf verschiedene Finanzierungsquellen abstützen wollen, künftig stärker an den Anliegen der Bondholder orientieren müssen. Die Emittenten werden aktiver auf die Obligationäre zugehen. Denn einem "emanzipierten" Investor ohne Anlagerestriktionen spielt es keine Rolle, für welche Gesellschaft er sich beim Obligationengagement entscheidet, wenn die Qualität, die Liquidität, die Konditionen und der Diversifikationseffekt zweier Anleihenschuldner etwa gleichwertig sind. Der Investor wird sich für diejenige Gesellschaft entscheiden, von der er überzeugt ist, dass sie die Anliegen der Bondholder kennt und ernst nimmt. Der Bondholder erwartet übrigens die gleiche Sorgfalt und Selektivität bei der Schuldnerauswahl auch von seiner Fondsgesellschaft und Pensionskasse. Dynamische Investoren achten bei der Wahl ihrer Depotbank darauf, welche ihnen einen kompetenten Informations- und Verwaltungsservice auch in Bonitätsangelegenheiten bieten kann. Die "Emanzipation" der Obligationäre führt dazu, dass sich Firmen mehr Gedanken über das Schaffen von Bondholder Value machen müssen.

Überprüfung der Bonitätsrisiken angebracht

Führende Ratingagenturen rechnen im 2001 mit der höchsten Zahlungsausfallrate im Junk-bond-Bereich seit 10 Jahren. Eine laufende Überprüfung der Bonitätsrisiken scheint deshalb angebracht! Und vergessen wir nicht, dass risikoneutrale Investoren vom Obligationenteil des Portfolios in der Regel erwarten, in Krisenzeiten die Funktion des "sicheren Hafens" zu übernehmen.


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